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Luftverteidigung (LV) der Europäischen Union (EU) Eine deutsch-französische Initiative für ein souveränes Europa.

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20 janvier 2023 l Jean-Marie Dhainaut, Jérémie Fraisse, Jean-Jacques Freland.

1 – Die europäische Luftverteidigung: viel steht auf dem Spiel; komplexe Zusammenhänge; derzeit nur teilweise wirksam.

Unter dem Begriff Luftverteidigung (LV) verstehen wir hier den Schutz vor jedem Angriff, der von bemanntem oder unbemanntem Fluggerät (Flugzeugen, Hubschraubern, Drohnen), Lenkflugkörpern (Kurz- oder Langstrecken-, Marsch-, ballistischen, oder Hyperschallflugkörpern), Raketen (gelenkt oder ungelenkt) bis hin zu Mörsergeschossen ausgehen.

Verschiedene Konflikte zeigen, wie kritisch die LV ist. Armenien-Aserbaidschan, Israel-Palästina, Russland-Ukraine sind nur drei Beispiele. An diesen Beispielen sieht man, dass es um den Schutz der Zivilbevölkerung und kritischer Infrastrukturen genauso geht wie um den Schutz militärischer Objekte. Wie man beobachten kann, haben Unzulänglichkeiten in der LV schwerwiegende Folgen.

Die LV muss daher sehr unterschiedliche Gebiete abdecken: ein Territorium, das Einsatzgebiet von (festen oder sich bewegenden) Streitkräften (innerhalb oder außerhalb des EU-Territoriums), kritische Einrichtungen… Es sei daran erinnert, dass bei einigen Lenkflugkörpern (z. B. Hyperschall- oder Marschflugkörper) die Zeit zwischen Aufdeckung und Einschlag extrem kurz sein kann.

Die LV muss daher organisiert sein, sodass sehr unterschiedliche Schwachpunkte, die sich in Gebieten mit sehr unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit befinden oder sich bewegen, zuverlässig gegen diese sehr unterschiedlichen Bedrohungen aus der Luft geschützt werden können. Diese Organisation ist eine komplexe Architektur, deren Elemente unterschiedliche geografische Umfänge und Verteidigungssysteme haben, aber miteinander kooperieren.

Innerhalb dieser Architektur müssen verschiedene Arten von Funktionen harmonisiert werden:

  • Effektoren, die die Bedrohung neutralisieren sollen: Kanonen, Lenkflugkörper, Strahlenwaffen usw.
  • Sensoren, die Bedrohungen erfassen und erkennen: auf Satelliten, in Flugzeugen, am Boden, auf Schiffen;
  • Datenzusammenführungs- und Kommandozentralen, die Informationen von den Sensoren empfangen und den Effektoren Befehle erteilen;
  • Kommunikationssysteme, die eine sichere Verbindung dieser Elemente zu einer vereinheitlichten Struktur gewährleisten.

In der EU nutzen zahlreiche Waffensysteme diese Funktionen und tragen zur LV auf verschiedenen Plattformen bei: am Boden, auf Schiffen oder in der Luft. Denken wir beispielsweise an Kanonensysteme (z.B. MANTIS, Gepard), an Lenkflugkörpersysteme (z.B. Stinger / LeFlaSys, Mistral, VL-MICA, Crotale, IRIS-T SL, Patriot, ASTER SAMP/T, NASAMS, RAM, RBS 70, RBS 90 etc.) und demnächst auch LASER-Waffen.

Es gibt verschiedene Sensorsysteme, unabhängig davon, ob sie in diesen Waffensystemen integriert sind oder ob sie eine autonome Überwachungsfunktion haben (AWACS, RADAR-Stationen, Satelliten usw.). Die Datenzusammenführungs- und Kommandozentralen weisen nationale Besonderheiten auf. Der Schutz von Kommunikationssystemen ist national geprägt. Waffensysteme basieren auf unterschiedlichen Effektoren.

Durch ihre verschiedenen Konzepte „NATO Integrated Air Defense System“, „NATO Air Defense Ground Environment“ und durch ihre Standardisierungsbemühungen stellt die NATO sicher, dass die unterschiedlichen nationalen Komponenten eine gewisse Verteidigung für die Mehrheit der europäischen NATO-Staaten bilden, insbesondere gegen Flugzeuge.

Entspricht diese Verteidigung dem Bedarf der EU-Mitgliedstaaten an Luftverteidigung? Das glauben wir nicht.

Um ihre Bürger, Infrastrukturen und Truppen zu schützen, braucht die EU eine operationelle, vernetzte, in ein globales System integrierte, interoperable, koordinierte und im Falle eines hochintensiven Konflikts wirksame LV. Was hier auf dem Spiel steht, ist schwerwiegend.

2 – Die LV der EU erfordert eine Vision, sehr große nachhaltige Anstrengungen und einen integrativen Ansatz

Das geht aus der Argumentation des deutschen Bundeskanzlers in seiner Prager Rede1 hervor. Die unter deutscher Schirmherrschaft formulierte Beschaffungsinitiative ESSI (European Sky Shield) entspricht damit dem Bedarf der NATO2 an einem integrierten Luft- und Lenkflugkörperabwehrsystem – IAMD3 – (Verteidigung gegen taktische und strategische Bedrohungen; ständige Mission in Friedens- und Krisenzeiten; Schutz der nationalen Territorien und der Streitkräfte der Bündnisländer vor Bedrohungen aus der Luft – ob bemannt oder unbemannt – oder durch Lenkflugkörper – einschließlich ballistischer (BMD) und hochentwickelter Hyperschalflugkörper).

Was die NATO derzeit nicht kann, das kann auch kein europäischer NATO-Mitgliedstaat oder kein EU-Mitgliedstaat alleine tun.

Diese ESSI-Initiative, die am 13. Oktober 2022 vorgestellt wurde, stellt eine technische Lösung vor, die die Flugkörper IRIS-T (Deutschland), Patriot (USA) und Arrow 3 (Vereinigte Staaten, Israel) verwendet. Ihr Ziel ist die gemeinsame Abwehr von Bedrohungen, die von der Luft oder dem Weltraum4 herrühren. 15 europäische Länder schlossen sich ihr an (nicht Frankreich und Italien).

Aber die LV darf nicht auf technische und/oder industrielle Lösungen reduziert werden (insbesondere nicht auf Kosten der europäischen Souveränität). Sie erfordert einen solidarischen politischen und strategischen Ansatz auf hoher Ebene, eine gemeinsame Vision und eine gemeinsame Ambition, die zahlreiche Facetten berücksichtigen (vgl. Frankreich als Nuklearmacht), denn:

  • die LV trägt zum Ziel europäischer Souveränität und strategischer Autonomie bei – wie z.B. die Bereiche Gesundheit, Energiewende, Digitalisierung usw.;
  • die LV ist für den Schutz der EU, ihrer Bürger, ihrer Territorien, ihrer kritischen Einrichtungen und ihrer außerhalb der EU eingesetzten Streitkräfte von entscheidender Bedeutung. Diese Bedeutung ist somit für alle EU-Bürger verständlich;
  • die LV ist hochkomplex (an und für sich stark integriert und mit den anderen betroffenen Parteien eng vernetzt), sie ist von sehr erheblicher Größe (Investitionen in Höhe von mehreren hundert Milliarden Euro über lange Zeit) und sie ist daher nur auf EU-Ebene und im Einklang mit der NATO denkbar;
  • die LV erfordert wegen der geographischen Gebiete, die sie als stark integriertes System abzudecken hat, einen integrativen Ansatz: sie kann demnach nur auf EU-Ebene unter Einbeziehung der Themen Souveränität, Interkonnektivität und Interoperabilität angegangen werden und dies in Abstimmung mit der NATO;
  • die LV erfordert ein großes langfristiges politisches Engagement – mehrere Jahrzehnte –, das nur die EU leisten kann.
3 – Eine LV für die EU: ein Beitrag zu einer starken und souveränen EU, die die NATO stärkt

Für die Europäische Union eine LV zu konzipieren, bedeutet in erster Linie, ihre Sicherheit zu erhöhen,

  • indem Verteidigungslücken geschlossen werden, durch die sowohl die EU-Bevölkerung als auch die EU-Infrastruktur gefährdet sind;
  • indem die Ressourcen dank der Reduktion der Vielfalt der Waffensysteme besser verwendet werden;
  • indem dem Militär mehr Effektivität angeboten wird, denn das Konzept wird, in einer Architektur, welche die Komplementarität und die Vernetzung besser sicherstellt, zur stärkeren Harmonisierung einer geringeren Anzahl von Waffensystemen führen.

Da es sich um ehrgeizige und langfristige Ziele handelt, wird die Einführung einer modernen LV die Entwicklung von Technologien zur Folge haben, die zu einer starken und souveränen EU beitragen werden:

  • Sie ist ein wichtiger Hebel für die Entwicklung neuer und bahnbrechender Technologien (Hyperschall, künstliche Intelligenz, Quantentechnik, Laser) mit dualen Verwendungsmöglichkeiten, die alle Bereiche der Verteidigungsindustrie (Weltraum – Satellitenkonstellation, Lenkflugkörpersysteme, Radar, Sensoren, Laser) betreffen werden.
  • Sie ermöglicht die Entwicklung einer global wettbewerbsfähigen EDITB5 von kritischer Größe, an dem auch viele kleine und mittlere Unternehmen beteiligt sein werden.
  • Dazu wird die Integration, die Interkonnektivität und die Interoperabilität der EU-Systeme weiterentwickelt werden müssen.

Die Bemühungen zur Verbesserung der LV auf den Erwerb von Waffensystemen zu beschränken, anstatt eine LV für die Europäische Union zu konzipieren, würde bedeuten:

  • sich darauf zu beschränken, mittelfristig bestimmte Verteidigungslücken durch Investitionen außerhalb der EU zu schließen, ohne dass dies für die EDITB von Nutzen wäre;
  • in die EU noch weitere Waffensysteme einzuführen, deren Weiterentwicklung außerhalb der EU gelenkt würde, wodurch die Ineffizienz des Einsatzes der finanziellen und personellen Ressourcen der EU weiter zunähme;
  • dass technologische Entwicklungen und industrielle Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich fehlen würden und, dass dies zu einem endgültigen Verlust der Souveränität der EU-Länder sowie zu einer endgültigen Herabstufung der EU in diesen Technologiebereichen führen würde. Dies wäre besonders enttäuschend, weil derzeit in verschiedenen europäischen Ländern Kapazitäten und Erfahrungen vorhanden sind.

Jens Stoltenberg sagte6 Ursula von der Leyen und Charles Michel:
„Our declaration (…) also recognises the value of a more capable European defence that contributes positively to our security and is complementary to, and interoperable with, NATO.7

Mit unserem vorliegenden Brief schlagen wir den Regierungen Frankreichs und Deutschlands vor, die europäische Konzeption einer solchen LV für die EU zu initiieren.

Nichts hindert daran, dass damit eine europäische Antwort auf die Frage nach einem „System der integrierten Luft- und Lenkflugkörperabwehr“ der NATO gegeben wird. Aber alles wird dazu führen, dass diese Antwort Teil einer europäischen Architektur wird, die in der Lage ist, im Bedarfsfall außerhalb des NATO-Rahmens souveräne Entscheidungen über den Einsatz von Luftabwehrsystemen in Europa zu treffen.

4 – Eine deutsch-französische Luftverteidigungsinitiative für ein souveränes Europa

Der Aufbau der EU-LV ist eine Chance, die Frankreich und Deutschland nicht versäumen dürfen, um das zu tun, wofür sie sich bekennen: „ihre Zusammenarbeit in der Europapolitik mit dem Ziel zu verstärken, die Einheit, die Leistungsfähigkeit und den Zusammenhalt Europas zu fördern und diese Zusammenarbeit zugleich allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union offen zu halten“.

Der Vertrag von Aachen ergänzt den Elysée-Vertrag, dessen Jahrestag am 23. Januar 2023 gefeiert wird. In diesem Vertrag lesen wir:

  • Frankreich und Deutschland sind „in der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, ihre bilateralen Beziehungen auf eine neue Stufe zu heben und sich auf die Herausforderungen vorzubereiten, vor denen beide Staaten und Europa im 21. Jahrhundert stehen“8 .
  • Sie erklären, dass sie „Europas Leistungsfähigkeit, Kohärenz und Glaubwürdigkeit im militärischen Bereich weiterentwickeln“;
  • Sie haben als Ziel „eine geeinte, leistungsfähige, souveräne und starke Europäische Union“.

Die LV bietet ihnen die Gelegenheit dazu.

Die Entwicklung einer europäischen LV wird Frankreich und Deutschland zwingen, den Dialog langfristig wieder aufzunehmen und dabei alle verfügbaren Kanäle zu nutzen: Militär, Regierung, Parlament, Industrie, Wissenschaft. Dieser Dialog muss von einer Verpflichtung zur Transparenz und einem übergeordneten Ziel der europäischen Souveränität geleitet werden.

Die gemeinsame Arbeit zu diesem Thema sollte sich an den Grundsätzen der Zusammenarbeit und Integration orientieren, die im Vertrag von Aachen vom 22. Januar 2019 verankert sind, und an der Einheit und der Solidarität9 , denen der Strategische Kompass der EU dient, der vom Europäischen Rat am 24./25. März 2022 gebilligt wurde.

Angesichts der Art und des Umfangs dieses EU-LV-Projekts ist ein enormer Ressourceneinsatz erforderlich. Angesichts ihrer Größe, ihrer politischen und militärischen Rolle, ihrer Kompetenzen müssen Frankreich und Deutschland sich dieser Initiative anschließen, sonst wird die EU diese Chance verpassen. Das Ziel ist jedoch, dass diese deutsch-französische Initiative sehr bald von der EU „getragen“ wird.

Angesichts der Komplexität und des transnationalen Charakters der EU-LV wird ein Programmmanagementsystem erforderlich sein, wie es üblicherweise für Unternehmen dieser Größe eingerichtet wird. Es ist auf einer solchen Ebene einzurichten, dass politische und strategische Ziele bei den zu treffenden Entscheidungen weiterhin prioritär bleiben. Das Programm „Europäsiche LV » wird wahrscheinlich Teilprogramme umfassen, von denen einige bereits sehr groß sein werden und die mit verschiedenen Akteuren jeweils spezifisch verwaltet werden. Dieses Managementsystem muss diese verschiedenen Programmkomponenten vereinigen, wobei strategische und politische Ziele Vorrang vor allen anderen Überlegungen haben.

Angesichts der erforderlichen wirtschaftlichen, technologischen und industriellen Anstrengungen wird dieses Programm die Beteiligung möglichst vieler EU-Mitgliedstaaten erfordern und geeignet sein, Verbindungen zwischen einer Vielzahl von Technologie- und Industrieakteuren zu knüpfen und so zur Bildung der EDITB beizutragen.
Bevor die technischen Lösungen gewählt werden, muss eine von der EU „geführte“ Arbeitsgruppe unter Berücksichtigung militärischer, technischer und politischer Aspekte beauftragt werden, die Bedrohungen zu ermitteln und eine Grundarchitektur zu definieren, die das Konzept der EU-LV strukturiert: vgl. geografischer Umfang, Schichten, Zeitplan. Diese Architektur muss dann vom Europarat genehmigt werden, damit sie als erste Referenz für das Programm dient.

Bei dieser Arbeit der Definition der Architektur könnte zunächst besonderes Augenmerk auf die obere und die untere Schicht gelegt werden. Wichtig ist, dass diese Architektur kohärent vorhersagt, wie die anderen Module des Systems später eingeführt werden, insbesondere die Vernetzung des Gesamtsystems.
Danach kann die EDA-Struktur wahrscheinlich genutzt werden, um operationelle und technische Empfehlungen zu formulieren, die dieser Architektur des „System of Systems“ für die EU-LV entsprechen.

Zu einem späteren Zeitpunkt wird es wahrscheinlich möglich sein, die Kompetenzen von OCCAR zu nutzen, um die Entwicklung der verschiedenen Systeme (Effektor, Sensoren, Kommando, Kommunikation) umzusetzen und dabei den in Europa bereits vorhandenen Erfahrungsschatz zu nutzen, z. B. in Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden usw.

Frankreich und Deutschland haben die Pflicht, in Bezug auf die europäische Luftverteidigung das Wort zu halten, das sie sich im Vertrag von Aachen gegeben haben.

1 Rede vom 29.09.2022. « Erheblichen Nachholbedarf haben wir in Europa bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum. (…). Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa (…) wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa (…). »

2 https://www.nato.int/cps/fr/natohq/topics_49635.htm : (Übersetzung aus dem Französischen : « Weiterhin baut die Allianz die BMD-Kapazität der NATO aus. Die Alliierten stehen zur vollständigen Umsetzung der BMD in der NATO, wie es die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder am Madrider Gipfeltreffen von 2022 bekräftigt haben.“

3 Integrated Air & Missile Defence. https://www.nato.int/cps/en/natolive/topics_8206.htm

4 Am 14.10.2022 vom BMVg veröffentlichte Information unter dem Link: https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/luftverteidigung-der-bundeswehr

5 EU’s Defence Technological and Industrial Base: EDITB

6 10 Janvier 2023, « Joint press conference »

7 „In unserer Erklärung (…) wird auch der Wert einer leistungsfähigeren europäischen Verteidigung anerkannt, die einen positiven Beitrag zu unserer Sicherheit leistet und die die NATO ergänzt und mit ihr interoperabel ist.”

8 Traité d’Aix-la-Chapelle, Januar 2019, Präambel.

9 https://www.consilium.europa.eu/fr/press/press-releases/2022/03/21/a-strategic-compass-for-a-stronger-eu-security-and-defence-in-the-next-decade/

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